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Der Gesellschaftsvertrag steht auf dem Spiel

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Soziale Ungleichheit

Radikal und durchgerechnet: Der britische Ökonom Anthony Atkinson präsentiert in seinem neuen Buch Vorschläge zum Abbau von zunehmender sozialer Ungleichheit.

05.09.2016, von Friedemann Bieber

© dpa Ein Grundeinkommen für jeden Bürger lehnten die Schweizer im Juni ab, Anthony Atkinson knüpft es allerdings an Bedingungen: Plakataktion auf dem Genfer Plaine de Plainpalais

In Filmen sehen Revolutionäre anders aus. Sir Anthony Atkinson trägt Anzug, Hemd und Krawatte, und wenn der Ökonom einen Vortrag hält, dann mit der ruhigen, sonoren Stimme eines Großvaters, der seinen Enkeln Kinderbücher vorliest. Aber die Ideen, über die Atkinson spricht, sind radikaler als alles, was in den Parlamenten zurzeit diskutiert wird. Ein staatlich garantierter Arbeitsplatz für jeden Bürger, eine Erbschaft bei Eintritt ins Erwachsenenleben und ein Grundeinkommen für alle, die sich gesellschaftlich einbringen – das sind nur drei von insgesamt fünfzehn Vorschlägen, die er in seinem Buch „Ungleichheit. Was wir dagegen tun können“ entwickelt und verteidigt. Seine Ideen, das schreibt der einundsiebzig Jahre alte Brite gleich zu Beginn, „ sollten uns von politischen Vorstellungen befreien, die uns in den letzten Jahrzehnten beherrscht haben.“

Das ist ein gewaltiger Anspruch, aber wenn ihn jemand erheben kann, dann vielleicht ein so nüchterner Autor wie Atkinson. Seit einem halben Jahrhundert forscht er an Englands besten Universitäten zu sozialer Ungleichheit. Gemeinsam mit dem Ökonom Simon Kuznets hat Atkinson dieses Forschungsfeld für die moderne Volkswirtschaftslehre gleichsam begründet. Dabei wollte er eigentlich Mathematiker werden. Nach dem Schulabschluss arbeitete Atkinson 1963 dann als Hilfspfleger in den Alsterdorfer Anstalten, einer evangelischen Sozialstätte in Hamburg. Die Entbehrungen und die Armut, die er dort erlebte, veränderten seine Pläne. Atkinson nahm sich vor, die sozialen Probleme stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken – und zwar mit Hilfe der quantitativen Sozialwissenschaften.

Atkinson kehrte nach England zurück und studierte in Cambridge bei James Meade, Nicholas Kaldor und Joan Robinson Ökonomie. Als erster erstellte er detaillierte Datenreihen zur Verteilung des Wohlstands, zunächst für Großbritannien, später für andere entwickelte Länder. In unzähligen Fachartikeln und zahlreichen Büchern hat Atkinson die historische Entwicklung von Vermögen, Einkommen und Armut seitdem analysiert und theoretische Modelle entwickelt, um die Daten zu interpretieren. Der Atkinson-Index ist heute ein wichtiger Indikator für Ungleichheit.

Piketty lernte von ihm

Auch Thomas Pikettys Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“, das vor drei Jahren eine Debatte über Reichtum auslöste, wäre ohne Atkinsons Vorarbeit nicht denkbar. In seinem eigenen Buch, das 2015 auf Englisch erschien, knüpft Atkinson an Pikettys Analyse an, geht aber weit über sie hinaus. Dort, wo Piketty nur das oberste Prozent oder Promille der Einkommenspyramide in den Blick nimmt, schaut Atkinson auf die gesamte Gesellschaft. Während Piketty davon ausgeht, dass in Zukunft die Kapitalrendite das Wirtschaftswachstum übertreffen und die Vermögen daher schneller als die Löhne steigen werden, sieht Atkinson darin kein Naturgesetz; er untersucht stattdessen den Einfluss der Reichen auf politische Entscheidungen. Und wo Piketty sich auf den Vorschlag beschränkt, der Entwicklung durch eine Vermögenssteuer und die Anhebung der Einkommenssteuer auf bis zu 80 Prozent entgegenzuwirken – Reformen, die er selbst für politisch nicht durchsetzbar hält –, arbeitet Atkinson gleich ein ganzes Bündel konkreter Reformvorschläge aus.

 
© dpa, Deutsche Welle Was macht man mit einem bedingungslosen Grundeinkommen?

Atkinsons Buch gliedert sich in drei Abschnitte: Diagnose, Reformvorschläge, Machbarkeitsstudie. Im ersten Teil unterscheidet Atkinson zunächst Formen der Ungleichheit. Er argumentiert, dass Chancengleichheit wichtig, aber nicht allein entscheidend ist. Denn zum einen könne jemand durch Unglück in Not geraten. Zum anderen unterschieden sich zwar die Talente der Menschen, aber ob ein siegreicher Athlet eine Girlande oder, wie der Gewinner der U.S. Open, drei Millionen Dollar erhält, hänge von ökonomischen Strukturen ab. Mit Blick auf die historische Entwicklung argumentiert Atkinson, dass Umverteilung allein nicht ausreicht, um Ungleichheit zu bekämpfen. Die Verteilung der Brutto-Einkommen, die der Markt bestimmt, sei wichtig. Den Markt aber, so Atkinsons These, können wir beeinflussen.

Reform des Erbrechts

Diese Überlegung bildet den Ausgangspunkt des zweiten Abschnitts, in dem Atkinson fünfzehn konkrete Reformvorschläge sowie einige Ideen zum weiteren Nachdenken formuliert. Auf die technologische Entwicklung etwa könne der Staat Einfluss nehmen, indem er Richtlinien erlasse und bestimmte Forschungsprojekte fördere. Atkinson verlangt, die sozialen Folgen neuer Technologien in den Blick zu nehmen und stärker zwischen ökonomischer Effizienz und gesellschaftlichen Bedürfnissen abzuwägen. Es dürfe nicht sein, dass wenige über Automatisierungsprozesse entscheiden, die vielen die Arbeit nehmen. Aus gesellschaftlicher Sicht könne es mitunter sinnvoll sein, in die Fähigkeiten der Menschen statt in teure, vollautomatische Maschinen zu investieren.

Eine grundlegende Reform des Erbrechts ist ein zweiter zentraler Vorschlag. Da Vermögen heute schneller als Einkommen wachsen und Familien weniger Kinder haben, nimmt die Bedeutung der Erbschaften für das erwartete Lebenseinkommen zu. Um ungleichen Startbedingungen entgegenzuwirken, fordert Atkinson eine progressive Steuer auf Schenkungen und Erbschaften. Zudem schlägt er eine Kapitalausstattung vor, eine Art Minierbschaft, die der Staat jedem Bürger bei Erreichen der Volljährigkeit auszahlt.

Kostenneutral soll es sein

Im dritten Abschnitt antizipiert Atkinson mögliche Einwände. Der wichtigste: Die Maßnahmen seien unbezahlbar und hätten verheerende wirtschaftliche Folgen. Dem hält Atkinson Argumente und Beispielrechnungen entgegen. In einer detaillierten Analyse untersucht er die Finanzierbarkeit eines Partizipationseinkommens, eines Grundeinkommens, das jeder erhält, der sich gesellschaftlich engagieren, sei es in Form von Arbeit, Pflege oder zivilem Engagement. Anders als viele Verfechter eines bedingungslosen Grundeinkommens sieht Atkinson darin eine Ergänzung zum bestehenden Sozialsystem und schlägt mit rund dreihundert Euro pro Monat eine recht moderate Summe vor. In Kombination mit einer Erhöhung der Einkommenssteuer auf in der Spitze 65 Prozent (aber mit Freibeträgen für Einkommen aus Arbeit) und der Einführung eines substantiellen Kindergelds (das jedoch als Einkommen besteuert wird), ließe sich ein solches Grundeinkommen nach Atkinsons Berechnungen in Großbritannien kostenneutral einführen. Eine solche Reform würde gleichwohl zu massiven Einkommensverschiebungen führen.

Atkinsons Überlegungen und Vorschläge beziehen sich auf Großbritannien. Auf andere Länder lässt sich seine Analyse übertragen, jedoch nur mit Einschränkungen. Denn zwar gab es im Westen um 1980 allgemein einen „Inequality Turn“, doch jedes Land hat seine Eigenheiten. Einkommen und Vermögen sind in Großbritannien ungleicher verteilt als etwa in Deutschland, vor allem aber hat die Einkommensungleichheit dort viel stärker zugenommen. Auch strukturelle Unterschiede sind wichtig. Deutschland garantiert Arbeitnehmern umfangreichere Rechte, hat stärkere Gewerkschaften und mehr Industrie. Zugleich ist die deutsche Gesellschaft im europäischen Vergleich aber besonders statisch. Bildungsniveau und Vermögen der Eltern bestimmen die Perspektiven der Kinder stärker als anderswo – und stärker als in der Vergangenheit.

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Die von Atkinson vorgeschlagene Mindesterbschaft, die jeder Bürger bei Erreichen der Volljährigkeit erhält, würde jungen Menschen zu Beginn der Berufslaufbahn zwar ein Stück Freiheit geben. Aber der Ausbau staatlicher Förderprogramme im Bildungsbereich scheint noch dringlicher. Und auch kleine Maßnahmen, etwa die Vergütung von Praktika bei staatlichen Einrichtungen, könnten die soziale Mobilität erhöhen. In Großbritannien ist eine solche Bezahlung längst üblich, damit junge Menschen unabhängig vom Vermögen ihrer Eltern erste Berufserfahrungen sammeln können.

Atkinson hat ein bemerkenswertes Buch geschrieben. Es ist allgemeinverständlich, sachlich fundiert und voll origineller Ideen. Die Motivation, das spürt der Leser immer wieder, ist eine tiefe Sorge. In der zunehmenden Ungleichheit sieht Atkinson nicht nur ein inhärentes Übel, sondern auch eine Gefahr für den sozialen Zusammenhalt und eine funktionierende Demokratie. Zugleich schreibt Atkinson gegen ein Gefühl der Alternativlosigkeit an. Sein Buch ist ein Appell, einen Schritt zurückzutreten und grundlegende politische Fragen neu zu stellen. Man muss nicht jedem seiner Vorschläge zustimmen, um dieses Buch zu schätzen. Lesen sollte man es auf jeden Fall.

Anthony Atkinson: „Ungleichheit“. Was wir dagegen tun können. Aus dem Englischen von Judith Elze. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2016. 480 S., geb., 26,95 €.

 

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